Aber ist es denn auch jemandem, der keine jüdischen Wurzeln hat, der der zweiten oder sogar dritten Generation nach dem Ende des Nationalsozialismus angehört, möglich, eine Geschichte über Judenverfolgung zu erzählen?

Die 7 wichtigsten Charaktere von links nach rechts: Vater Bernstein, Mame Bernstein, Julia Hofmann, Amber Bernstein, Judah Bernstein, Emmet Bernstein, Joachim Hofmann

Jüdisch sein“ ist in den Medien allgegenwärtig, sei es im Roman („Alles ist erleuchtet“ von Jonathan Safran Foer oder „Jakob der Lügner“ von Jurek Becker), im Kino („Annie Hall“, „Schindlers Liste“ als Beispiel), ja auch der jüdische Witz ist allgegenwärtig, man denke nur an Woody Allen, Mel Brooks oder Jerry Lewis, um nur ein paar zu nennen. Die Liste ist endlos, jüdische Lebensweise ist aus der Kunst und Kultur nicht wegzudenken, kein Wunder, dass sich das auch in gezeichneter Form niederschlägt. Fast immer wird aber auch heutzutage noch in einem Atemzug mit dem Judentum, der Holocaust genannt. Der Jahrhunderte lange Antisemitismus, der im Genozid der 1940er Jahre seinen Höhepunkt fand, bleibt einem immer im Hinterkopf. Denkt man an Comics, die dieses Thema aufgreifen, kommt man sofort zu Art Spiegelmans Meisterwerk „Maus“, welches beides, Judentum und Holocaust, eindringlich darstellt. Für ihn ist ganz klar: „In jedem Rassismus mit seiner krassen Entgegensetzung von Gut und Böse steckt ein Comicstrip“ (Spiegelman, Maus 2, Klappentext).

Aber ist es denn auch jemandem, der keine jüdischen Wurzeln hat, der der zweiten oder sogar dritten Generation nach dem Ende des Nationalsozialismus angehört, möglich, eine Geschichte über Judenverfolgung zu erzählen? Diese Frage stellt sich natürlich. Und wenn man sich an das Thema traut, wie geht man es am besten an, denn nach wie vor ist es ein sehr empfindliches Thema.

Es gibt einige Comics, sei es von Autoren jüdischer oder nichtjüdischer Abstammung, die sich mit der Shoah beschäftigen. Da ich mich in der Form für ein „Graphic Novel“ entschieden habe, möchte ich noch einmal kurz auf Will Eisner, der diesen Begriff geprägt hat (vgl. Platthaus, Seite 3), eingehen.

Eisner, der als Sohn jüdischer Eltern 1917 in New York geboren wurde, hat wie wohl kaum ein anderer das Genre Comic beeinflusst (vgl. Platthaus, Seite 3). Auch für ihn ging es dabei um „die Selbstverständigung über die eigene jüdische Identität und den Kampf gegen den Rassenwahn“ (Platthaus, Seite 3). In diesem Zusammenhang sind zwei seiner Werke besonders hervorzuheben: sein Sachcomic „Das Komplott“, in dem er sich mit den „Protokollen der Weisen von Zion“, einer uralten Hetzschrift gegen die Juden beschäftigt, und sein autobiografisches Werk „Zum Herzen des Sturms“, in dem es um seine Kindheit und um die Vergangenheit seiner Eltern geht. Es ist eine große Leistung, dass dieses Werk allein von Alltagsgeschehnissen lebt und so beweist, dass es keiner „theatralischen“ Szenen bedarf um mitzureißen.

Ich habe mit 15 oder 16 Jahren angefangen, mich für das Thema Judentum und Holocaust zu interessieren; damals nahmen wir im Geschichtsunterricht gerade die Geschwister Scholl und die „Weiße Rose“ durch. Mein erster Film, den ich zu diesem Thema gesehen habe, war die doch recht mittelmäßige Hollywood-Version von Jurek Beckers „Jakob der Lügner“. Damals war mir die Thematik fremd und ich war sehr geschockt, dass jemand zum Tode verurteilt wird, nur weil er ein Radio besitzt. Mit 18 Jahren hatte ich wohl jede Dokumentation gesehen, die es zum Thema Holocaust und Nationalsozialismus zu dieser Zeit gab; ich wollte damals noch eine lange Geschichte über eine jüdische Familie zeichnen. Sozusagen von den frühen 1930er Jahren bis zum Ende des Krieges 1945, doch ist mir mit der Zeit klar geworden, dass ich wohl nicht die psychische Verfassung besitze, um das „Überleben“ in einem Todeslager zu schildern, ich hätte die Sorge gehabt die Situation nicht angemessen darzustellen. Damals zeichnete ich eine Kurzgeschichte von drei Seiten über die Pogromnacht 1938, auf die Wormser Synagoge bezogen, da ich aus Worms komme. Es wird zwar nicht in meiner Geschichte erwähnt, aber sie spielt in Rheinhessen, weil ich einfach viel Literatur aus dieser Region besitze.

Nachdem ich beschlossen hatte meine Bachelor-Arbeit diesem Thema zu widmen und ein Comic beziehungsweise Graphic Novel über eine jüdische Familie zu zeichnen, wusste ich schnell, dass ich es mehr auf deren Alltagsleben beschränken würde. Auf Grund der doch relativ kurzen Zeit habe ich die Seitenzahl auf 20 Seiten reduzieren müssen, was nicht gerade viel ist, trotzdem wollte ich die Entwicklung und die immer schwierigeren Lebensumstände der Juden in dieser Zeit zeigen. Ich habe mich deshalb für eine periodische Erzählform entschieden, um den Zeitraum von 1934 bis 1938 abdecken zu können.

Nachdem mir der Zeitraum klar war, machte ich mich an die Umsetzung der Charaktere. Ich wusste bereits, dass es um eine ganze Familie ging. Erst einmal musste ich den Hauptcharakter, also die Bezugsperson finden. Ich habe mich dann für einen Jungen entschieden, der in der Geschichte 14 bis 17 Jahre alt sein sollte. Dann spielte zur gleichen Zeit auch das Alter der Zielgruppe eine Rolle, die im Normalfall etwas jünger ist als die Bezugsperson in der Geschichte. Meine Zielgruppe wäre somit zwischen 12 und 15 Jahren, was mir auch sehr wichtig war, denn erstens war das ungefähr mein Alter, als ich mit dem Thema in Berührung kam, zweitens ist es gut früh etwas von diesem Thema zu erfahren, da es bis heute noch sehr aktuell ist.

Ich hatte also das Alter und Geschlecht meines Hauptcharakters, nun musste ich seinen Charakter definieren. Ich beschloss, das Thema Ausgrenzung und Einzelgänger stark in den Vordergrund zu nehmen, da das etwas ist, worunter heute noch viele Kinder und Jugendliche leiden, weshalb es auch für viele gut nachvollziehbar ist.

Ich habe mich für den Namen Judah entschieden, ein hebräischer Name und vielleicht etwas zu traditionell, doch ich finde, dass es zu ihm passt. Ich hatte den Namen damals in Woody Allens „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ von 1989 aufgeschnappt, der Hauptcharakter heißt dort auch Judah und ich bin ihn nicht mehr losgeworden.

Judahs Kernbedürfnis ist, dass er versucht als Jude das Gymnasium zu schaffen und das Abitur zu bestehen, das ist sozusagen sein persönliches Aufbäumen gegen die Unterdrückung des Nationalsozialismus. Dadurch hat er immer einen sehr starken Druck auf sich lasten, denn er muss immer der Beste sein, um nicht der Schule verwiesen zu werden. Allerdings musst er am 15.11.1938 schließlich das Gymnasium verlassen, da ein Gesetz verabschiedet wurde, das jüdischen Schülern verbot öffentliche Schulen zu besuchen (Griesshaber, ohne Seite). Judah ist sehr belesen, er hat oft ein Buch in der Hand, doch liest er nicht nur zum Zwecke des Lernens sondern auch aus Spaß. Sein Lieblingsbuch ist ein Kinderbuch und zwar „Dr. Dolittle und seine Tiere“ von Hugh Lofting aus dem Jahre 1920. Er versucht immer sehr erwachsen zu wirken und das gibt ihm eine kindliche, verspielte Seite, die man bei ihm vielleicht nicht erwartet. Es ist aber auch ein Klischee, dass Juden oft „intellektuell“ erscheinen, was damals sogar in Bezug auf Juden eine negative Konnotation hatte (vgl. Schoeps, Seite 16), doch für Judah ist es der Weg zu seinem Ziel.

Judah trägt das ganze Comic hindurch immer einen Schal, das ist für ihn wie ein Schutz vor der feindlichen Umwelt, sozusagen ein Schutzschild. Ich habe die Farbe Zyan gewählt, es sollte als Signalfarbe dienen, da das Comic in Brauntönen gehalten ist und so Judahs Schal immer heraussticht. So kam ich dann auch auf den Titel „der Junge mit dem blauen Schal“, womit natürlich Judah gemeint ist. Sehr weit hergeholt, könnte man die Farbe Zyan schon als böse Vorahnung sehen, denn schließlich wurden die Juden in den Todeslagern mit Zyklon B vergast, dessen Wirkstoff Blausäure ist. Dies soll aber nicht bedeuten, dass Judah in der Gaskammer stirbt, es ist mehr eine allgemeine Vorwarnung.

Judah hat noch zwei jüngere Brüder, die sich beide sehr von ihm unterscheiden. Da wäre zum einen Emmet, der zwei Jahre jünger ist als Judah. Er hat viel Temperament und scheut keine Auseinandersetzung, was ihm auch oft Schrammen und Streit mit seiner Mutter einbringt. Er steht im Schatten seines großen, „perfekten“ Bruders und ist das Sorgenkind der Familie. So weissagt Mame (die Mutter) auch, dass es einmal böse mit ihm enden wird. Sein Dickkopf ist seine Art mit der schweren Zeit umzugehen und zu zeigen, dass er, obwohl er jüdisch ist, sich nicht unterdrücken lässt.

Amber ist der jüngste Bruder, er ist neun Jahre jünger als Judah, also fünf Jahre, wenn die Geschichte beginnt. Sein Name bedeutet Bernstein auf Deutsch, was auch zugleich der Nachname der Familie ist. Er ist das Nesthäkchen und der kleine Träumer. Man könnte schon fast sagen, er ist Mames Liebling, da sie sich besonders um ihn kümmert und ihn immer im Auge hat. Amber ist etwas geistesabwesend und so läuft er meist ohne Schuhe in der Gegend herum, was man ihm nachsieht, denn er ist ja noch ein Kind. Er ist naiv, aber ihm ist bewusst, dass seine Umwelt gefährlich sein kann. So erkennt er auf Seite 11, dass „Kein Zutritt für Juden“-Schild und weiß was das bedeutet, obwohl er noch nicht lesen kann. Im Verlauf der Geschichte wird jedoch klar, dass Amber nie den Mut verliert und immer gut gelaunt und positiv ist, worin er sich von seinen zwei älteren Brüdern unterscheidet.

Der Vater der Jungen ist Allgemeinmediziner und hat seine Praxis bei der Familie im Erdgeschoss. Er ist wie sein jüngster Spross ein Optimist und versucht immer Mut zu machen, wo es geht. Er ist ein sehr gemütlicher Mensch und hat eigentlich immer etwas Süßes in seinen Taschen.

Judahs Mutter, die von allen Mame genannt wird, ist die Herrin und Diva des Hauses, sie hat über alles und jeden ein wachendes Auge. Sie ist sehr besorgt um ihre drei Jungs und scheut nicht davor zurück, sie bei jeder Gelegenheit daran zu erinnern oder Vorwürfe zu äußern. Vor allem als Judah seine Freundin Julia mit nach Hause bringt, ist ihr das gar nicht recht. Allerdings ist sie sehr überfordert von der derzeitigen Situation und versucht ihr Jungen zu beschützen, sie ist eine wahre Glucke in dieser Beziehung. Ich möchte noch kurz auf ihre Nase beziehungsweise auch Judahs Nase zu sprechen kommen, da mich schon öfter Leute darauf angesprochen haben. Man kennt die propagandistische Darstellung von Juden im Dritten Reich, vor allem fallen ihre stark betonten Nasen, die sogenannten Hakennasen auf. Ich zeichne gerne markante Nasen bei meinen Charakteren und dass ich hier eine Anwandlung einer Hakennase benutzt habe, hat nichts mit rassistischen Gründen zu tun. Vielmehr steht eine solche Nase für mich auch für Intelligenz und Ernsthaftigkeit oder Strenge, man denke hier nur an Sherlock Holmes oder auch Severus Snape aus J. K. Rowlings „Harry Potter“.

Die Bezeichnung „Mame“ kommt natürlich aus dem Jüdischen oder Jiddischen, so gibt es auch den bekannten Klezmer mit dem Titel „My jiddische Mame“ oder auch viele, viele jüdische Witze zu dem Thema. So schreibt ein User von Zeit Online sehr passend: „Mutter ist nämlich bei Weitem nicht gleich Mutter! Eine jüdische Mame ist etwa wie eine italienische Mama in dritter Potenz und das will doch wirklich was heißen….“ (Zeit Online)

Obwohl Judah ein Außenseiter ist, hat er einen guten Freund in Joachim Hofmann, dem er Nachhilfe in Mathematik gibt. Joachims Familie ist nicht antisemitisch und so kann sich Judah auf ihn verlassen. Er lädt ihn sogar zu seinem und dem Geburtstag seiner Zwillingsschwester Julia ein, dort treffen sich auch Judah und Julia zum ersten Mal. Nachdem die Zeiten aber schlimmer werden, muss Judah den Kontakt zu Joachim abbrechen und dieser muss den jüdischen Freund ignorieren.

Julia Hofmann, Joachims Zwillingsschwester, wird in den 1935er bis 1938er Jahren Judahs feste Freundin. Sie stört sich nicht daran, dass er Jude ist und nimmt das Ganze gelassen und sieht bis zum Schluss nicht die gefährliche Situation. Durch ihre Fröhlichkeit und Unbesonnenheit ist sie das genaue Gegenteil zum ernsten Judah, wird aber gerade deshalb eine Stütze für ihn.

Obengenannte Personen sind die wichtigsten sieben Charaktere der Geschichte.

Die Frage, ob es jemandem, der keine jüdischen Wurzeln hat und schon Jahrzehnte nach dem Nationalsozialismus geboren wurde möglich ist, ein Comic über Judentum und Holocaust zu zeichnen, würde ich für mich mit ja beantworten. Natürlich wird man als Nichtjude bei diesem Thema misstrauisch beäugt, aber wenn man sich für ein solches Thema entscheidet, muss man dem standhalten. Es ist auf jeden Fall ein sehr schweres Thema, denn es braucht sehr viele Nachforschungen, die auch unter die Haut gehen können. Ich denke es hilft, sehr sensibel an die Sache heranzugehen und sich immer in seinen Hauptcharakter hineinversetzen zu können. Das bringt einem dann unter anderem auch einmal ein paar Albträume ein.

Auf jeden Fall sollte man sich mit der Thematik auskennen und viel darüber lesen und/oder schauen. Für mich war es auch sehr hilfreich, dass ich die Konzentrationslager Sachsenhausen und Buchenwald besucht habe, auch wenn diese nicht in meiner Geschichte vorkommen. Doch bekommt man dort einen Einblick von der Situation der Gefangenen und der Atmosphäre, die in dieser Zeit geherrscht hat.

Man sollte auch etwas über jüdisches Leben und deren Riten wissen, vielleicht auch etwas über deren historische Wurzeln und Geschichte. Denn selbst wenn es nicht in der Geschichte erwähnt wird, schwingt das Wissen im Hintergrund mit.

Auch gibt es so viele Klischees, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind, die man kennen sollte, falls man sie benutzt, wie zum Beispiel die oben erwähnte „Hakennase“, die sehr gerne im Nationalsozialismus gebraucht wurde.

Schlussendlich bin ich stolz, dass ich mich dieser Geschichte gewidmet habe und es geschafft habe sie zu zeichnen. Natürlich gibt es noch ein paar Dinge, die man verbessern könnte, doch nach so einer relativ kurzen Bearbeitungszeit bin ich doch froh und zufrieden mit dem, was dabei heraus gekommen ist.

Ich denke auch, dass das Thema heute noch Relevanz hat und man es besonders der jüngeren Generation ans Herz legen sollte.

Auch war es mir wichtig, einmal die frühen 30er Jahre anzusprechen, da viele Medien diese Zeit als nicht besonders erwähnenswert erachten, doch gerade dieser Zeitraum zeigt, wie sich der Antisemitismus über die Jahre steigerte und dann letztendlich im Holocaust endete.

Für mich ist der Holocaust bis heute unglaublich und je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto seltsamer und paradoxer kommt mir dieser Teil der Geschichte vor. Ich denke, so geht es vielen Menschen, vor allem den Juden selbst.

Zuletzt möchte ich noch anmerken, dass mein Comic daran wohl nichts ändern wird, aber es doch wünschenswert wäre, wenn so etwas nicht noch einmal passieren würde.

2 thoughts on “Aber ist es denn auch jemandem, der keine jüdischen Wurzeln hat, der der zweiten oder sogar dritten Generation nach dem Ende des Nationalsozialismus angehört, möglich, eine Geschichte über Judenverfolgung zu erzählen?

  1. Ich finde es toll,was du da geschrieben ist!
    Das war wirklich sehr aufschlussreich und interessant.
    Du hast meiner Meinung nach alles erwähnt und erläutert,was wichtig gewesen wäre.
    Gratulation für deine harte Arbeit!

Leave a comment